Call for Papers Frauen und Film, Heft 71

Feministische Ökonomie und Zeitlichkeit

Gastherausgeberin: Eva Kuhn


Der vorliegende call for papers möchte Ökonomie im etymologischen Sinne als »Gesetz des Hauses« verstehen. Ausgangspunkt ist die in den 1970er Jahren entstandene (feministische) Kritik an einem System, das die Idee des unbegrenzten Wachstums des Kapitals für absolut erklärt hat und alle sozialen, ökologischen und kreativen Prozesse – die sich in zwischenmenschlichen Beziehungen ebenso artikulieren, wie in Bildung, Kunst und Kultur – diesem Interesse unterordnet. Unter den aktuellsten Vorzeichen einer »Erde am Limit« und angesichts der verheerenden Auswirkungen eines seit der Industrialisierung dominanten Weltbezugs stellt sich die Frage nach neuen sowie alten Formen des Haus-Haltens, des zirkulären Wirtschaftens auf besonders dringliche Weise.

 

Die neoklassische Wirtschaftstheorie hat ein globales und uns individuell betreffendes System eingerichtet, das Leben und Überleben ernsthaft bedroht. Aufgrund der systeminhärenten Notwendigkeit, (abstraktes) Kapital zu akkumulieren, ins Unendliche »wachsen« zu lassen, ist die Übernutzung sowie Ausbeutung von (physikalischen) Ressourcen wie Böden, Körpern, Lebenszeit systematisch Teil des kapitalistischen Plans. Aufgrund der Begrenztheit der Ressourcen (im Gegensatz zur beliebigen Reproduzierbarkeit von Geld), hat dieser keine Zukunft. Die »Ökonomie« (griech.: Haushaltung) eines brennenden Hauses ist durch den »Oikos« (griech.: Haus- und Wirtschaftsgemeinschaft) zu überprüfen und mit Blick auf die »Ökologie« (griech.: Lehre des Hauses) zu überdenken. An dieser drängenden Aufgabe mitzuarbeiten, ist der Anspruch dieses Themenheftes - zumal Filme mit Zeit arbeiten und darin ihre jeweils eigene Ökonomie entwickeln, sowie in ihren Visualisierungen Visionäres leisten, Visionen sichtbar machen können.

 

Das Heft möchte sich auf die Suche nach neuen »homines oeconomici« machen, die die Gesetze des Lebens in ihre Rechnung einbeziehen. Im Unterschied zu Marx waren feministisch-marxistische Denkerinnen in der Lage, Produktivität der Arbeit anders zu denken als in der Warenproduktion und Wertschöpfung von Kapitalakkumulation zu trennen. Vielversprechend erscheinen uns die Ansätze der aktuellen feministischen Ökonomie, die als Indikator für ökonomische Wertschöpfung nicht Geldströme, sondern zeitliche Belastungen messen. Dabei wird der Eigenzeit buchstäblich Rechnung getragen: der Einsicht, dass bestimmte Prozesse innerhalb bestimmter Zeiträume, in Rhythmen oder Zyklen erfolgen und selbstverständlich eine bestimmte Dauer benötigen. Sosehr wir uns auch beeilen: das Kind wird nicht schneller erwachsen, und ein Text wird meistens besser, wenn das Schreiben Zeit in Anspruch nehmen darf. Auf Wachstums- und Blütezeiten folgen auch Phasen des Niedergangs und Sterbens, auf Leistungen folgen Phasen der Regeneration.

 

Dass Eigenzeiten mit den Mechanismen des herrschenden Wirtschaftssystems und seiner an der Vermehrung von Geld orientierten, linearen Konzeption von Zeit kollidieren, zeigt sich in einer Absurdität, deren Sichtbarmachung auf eine Dynamik der kritischen Masse hoffen lässt. Der anteilmäßig größte Teil der global geleisteten Arbeit und dadurch in Arbeit investierten Lebenszeit bildet sich im öffentlichen »Haushaltsbuch« - dem Bruttosozialprodukt (engl. gross domestic (!) product) - nicht ab. Es ist jene un- beziehungsweise unterbezahlte Sorge- und Versorgungsarbeit - eine an den menschlichen Grundbedürfnissen, der Subsistenz, und dem menschlichen Wohlergehen ausgerichtete, für das (gute) Leben und Überleben notwendige Arbeit, die Mitte des 19. Jahrhunderts durch den »gender deal« (Federici 2012) in den Privathaushalt ausgelagert wurde. Aufgrund der geringen »Wertschöpfung« scheint sie das globale Kapital nicht nennenswert zu bereichern. Der Grund für die Verdrängung dieser Arbeit ins Unsichtbare und systemisch Unbewusste liegt in ihrer konträren Konzeption von Wertschöpfung und ihrem anderen Verhältnis zur Zeit. »Wachstum« im kapitalistischen Sinne bedeutet nicht »gedeihen lassen«, keine Hingabe oder aktive Gestaltung der sich ausdehnenden Zeit des Lebens (und Körpers), vielmehr ihre Rationalisierung, Abstraktion und Verknappung: Profit erwirtschaftet, wer immer mehr Produkte (produktförmigen Output) in immer kürzerer Zeit herstellen kann.

 

Filmische und kapitalistische Zeit sind insofern eng verbunden, als Drehbuchgesetze der klassischen Narration durch das neoklassische Menschenbild des homo oeconomicus geprägt sind und sich die westliche Filmtradition dem hegemonialen Zeitmodell der (teleologischen) Linearität verschrieben hat. Wir möchten mit diesem Heft dazu einladen, sich in/mit Filmen auf (körperlich gebundene) Zeit im Leben zu besinnen, wie sie reflektiert und erlebbar wird. Uns interessieren Filme, die durch den globalen Kapitalismus etablierte Muster und Abhängigkeiten in Bezug auf Zeitlichkeit sichtbar machen und/oder Auswege aufzeigen. Filme, in denen zum Beispiel Maintenance Work nicht nur als Aufrechterhaltung eines Status Quo präsentiert wird, sondern auch als Möglichkeit, einen Status Quo ins Wanken zu bringen, Reproduktionsarbeit nicht nur als Reproduktion von Arbeiter:innen für den dominierenden Markt zu verstehen, sondern als die Kultivierung unserer Lebensgrundlagen. Filme, die der dominanten Ökonomie die Dauer und die lange Weile entgegensetzen oder mit anderen Formen des Streiks, des Zufalls oder Ritualen kontern. Auf welche Weise machen welche Filme Eigenzeiten, Gegenzeiten erfahrbar und unterziehen sie durch die Steuerung von Inhalt und Form das filmische Konsumverhalten selbst einer Analyse und Neubestimmung?

 

Einsendungen von Vorschlägen (abstracts von ca. einer Seite) möglichst bis zum 1.9.2022 an Eva Kuhn.

 

Call for Papers Frauen und Film 71
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